Gemeinnütziger Verein will junge Mutter räumen lassen.

Tübingen, 09.11.2018

Am heutigen Freitag begann am Amtsgericht Tübingen ein Verfahren, dessen Folgen noch alle in selbstverwalteten, basisdemokratischen Projekten Wirkende und Lebende betreffen könnten.

Kläger sind die Vorstände des „Vereins zur Schaffung und Erhaltung selbstverwalteten Wohnens e.V.“ (gemeinnütziger Trägerverein der beiden Hausprojekte „Leibnizhaus 2“ und „Leibnizhaus 3“ auf dem Österberg, der Verein besteht aus aktuellen und ehemaligen Bewohner_innen beider Häuser). Beklagte ist eine langjährige Bewohnerin, die nun zur Räumung verurteilt werden soll.

Einige der Hauptanklagepunkte sind unregelmäßige Zahlungen bzw. Mietrückstände in der Vergangenheit (Dazu muss ergänzt werden: unregelmäßige Zahlungen und Rückstände sind die Regel, die Rückstände der Beklagten wurden beglichen. Die viel größeren Rückstände des klagenden Vorstands zum Zeitpunkt der Klageerhebung unseres Wissens nicht) , das Lagern privater Gegenstände auf Gemeinschaftsflächen (konkret u.a. Dinge auf dem Flur vor dem Zimmer) sowie die Nutzung von Gegenständen, die sie nicht privat besitzt (konkret u.a. Koch- und Essgeschirr der Gemeinschaftsküche).

 

Hintergrund der Klage ist ein seit Jahren schwelender und immer wieder hochflammender Konflikt, auf dessen Inhalte aus Rücksicht auf Hausinterna an dieser Stelle nicht eingegangen werden soll. Zur Einordnung der aktuellen Entwicklungen folgt jedoch ein kurzer historischer Exkurs:

Der Konflikt entzündete sich 2012 zwischen verschiedenen Parteien der Bewohner_innen. Direkt nach Beginn des offenen Konflikts wurde von einer der Konfliktparteien (Partei A) sowie einigen am Konflikt nicht direkt beteiligten Bewohner_innen eine Mediation gefordert, da der Umgangston der anderen der Parteien (Partei B) auf und abseits von Hausversammlungen als nicht tragbar angesehen wurde. Eine Mediation bzw. Supervision wurde begonnen und nach einigen Terminen von Seiten der Partei B abgebrochen.

Der Umgangston wurde noch schärfer, es gab 2013 dann auch tätliche Übergriffe gegen Personen der Partei A (siehe auch http://www.tueinfo.org/cms/node/23711).

Bald darauf erhielt die Hauptinitiatorin der Mediation und auch heute Beklagte (Angehörige der Partei A) eine Kündigung sowie eine anwaltliche Räumungsandrohung, unterschrieben von Vereinsvorständen (Angehörige der Partei B) und bezahlt vom Hauskonto. Kündigung und anhängige Verfahren mussten zurückgezogen werden, da sie offenbar rechtlich unzulässig und unbegründbar waren.

 

Sprung ins Jahr 2018: Es gab großen personellen Wechsel, die damaligen Hauptakteure blieben. Alle neu Eingezogenen kennen die Geschichte der damaligen Ereignisse quasi ausschließlich aus Darstellungen der Partei B, in denen die heute Beklagte zum Bösewicht hochstilisiert wurde. Diese ist mittlerweile Mutter eines 1,5 Jahre alten Kindes.

Das Leibnizhaus 2 trat als Projektinitiative dem Mietshäuser Syndikat bei und will das Haus (momentan noch Landeseigentum) nach dem Modell des Mietshäuser Syndikat (Bewohner_innenverein → GmbH) erwerben.

Zu Beginn des Jahres legte die interne Hauskaufgruppe offiziell ihre Arbeit nieder. Die beteiligten Personen (Angehörige der Partei B sowie neu Eingezogene) wollen das Haus nicht kaufen, solange die heute Beklagte noch dort wohnt, hieß es. Außerdem sei Eile geboten, da das Zeitfenster für den Kauf sich in einem Jahr schließe, die Hausgemeinschaft möge daher in eigenem Interesse doch die heute Beklagte zum Auszug bewegen.

Es folgte im Mai eine Hausversammlung unter Ausschluss der heute Beklagten, in der Partei B ihre selbstverständlich sehr einseitige Sicht auf die Ereignisse seit 2012 zum Besten gab.

Infolgedessen begannen heftige Übergriffe gegen die heute Beklagte, gegen die im Haus wohnenden oder zu Besuch kommenden Freund_innen derselben sowie teils auch gegen die noch verbleibenden unparteiischen Bewohnenden. Übergriffe gegen die heute Beklagte gab es bereits in den vorangegangenen Monaten. Um nur einige aufzuführen: Anrempeln im Hausflur, Anschreien, Drohungen, Sachbeschädigungen, Diebstahl, gesalzene Pflanzen und Gemüsebeete, schriftliches Bezeichnen der nun Beklagten und ihrer Freund_innen als „faschistoide Zelle“, die es zu „zerstören“ gelte, Schmähsprüche an den Wänden….

Verschiedene Personen, die sich davor neutral positioniert hatten, ergriffen nun nach und nach Partei gegen die heute Beklagte und zugunsten Partei B. Im Juni 2018 wurde „demokratisch“ (per Mehrheitsabstimmung auf einer Versammlung, auf der nicht alle Bewohnende anwesend waren) der Ausschluss der heute Beklagten aus der Hausgemeinschaft beschlossen.

Inzwischen waren auch Anwälte angestellt worden. Zunächst von der heute Beklagten, um ihre Stellungnahme gegen die von Partei B vorgebrachten Behauptungen nach ihrem Ausschluss aus Hausversammlungen zu Gehör bringen zu können. Danach von den Vereinsvorständen (wieder Angehörige der Partei B), um die auch jetzt Beklagte zum Auszug zu nötigen. Die zuerst von den Vorständen engagierte Anwältin legte ihr Mandat nach Bekanntwerden der Übergriffe nieder.

Im August 2018 schließlich fand Partei B einen Anwalt, der bereit war, eine Kündigungs- und Klageschrift auf Grundlage ihrer Aussagen zu verfassen. Diese wurde Mitte August beim Gericht eingereicht. Einen Beschluss oder ein Mandat der Hausversammlung auf Einstellung eines Anwalts, Kündigung oder gar Räumung der heute Beklagten gab es nicht.

 

Im Zivilrecht (und darum handelt es sich im vorliegenden Fall) ist eine der eigentlichen Verhandlung vorgezogene Güteverhandlung vorgesehen. In dieser sollen die Parteien zu einer außergerichtlichen Einigung angehalten werden.

Der heutige Verhandlungsauftakt bestand aus der Güteverhandlung, auf der folgender Vergleich vorgeschlagen wurde:

1. Es wird ein Räumungstermin festgelegt, zu dem die Beklagte das Leibnizhaus 2 verlassen muss.

2. Es verpflichten sich beide Parteien zur Teilnahme an einer professionellen Streitschlichtung.

3. Wenn die Streitschlichtung (warum auch immer) keinen Erfolg haben sollte, gilt der Räumungstermin. Wenn die Streitschlichtung zu einer Einigung führen sollte, gilt der Termin nicht.

Dieser Vergleich hätte in der momentan stark eskalierten Situation das hohe Risiko, dass die Streitschlichtung nur pro forma geführt werden könnte; in der Absicht, den Auszug der Beklagten darüber herbeizuführen. Die Beklagte stimmte diesem Vergleich daher nicht zu, es kommt nun zur Haupt- bzw. eigentlichen Gerichtsverhandlung.

 

Nun kommt es also tatsächlich zur Verhandlung. Mitbewohner_innen eines selbstverwalteten Projekts gegeneinander. Mensch stelle sich vor, die heute Beklagte hätte sich voriges Jahr zum Vorstand wählen lassen und in dieser Funktion einen Anwalt gegen Partei B engagiert… Die Klageschrift könnte wohl sehr ähnlich lauten.

Dass sie nach wie vor eine tatsächlich gemeinschaftliche, gleichberechtigte Lösung für richtig und nötig hält und den Konflikt innerhalb der Selbstverwaltung und nicht rechtsstaatlich austragen wollte, wird ihr nun aber zum Verhängnis.

 

Warum könnte das Folgen haben für alle, die in selbstverwalteten Projekten leben und aktiv sind? Warum sollte dich das interessieren? Was geht uns ein projektinterner Konflikt an?

Zunächst mal nichts. Und wer inhaltlich recht hat, ist auch nicht Thema dieser Stellungsnahme.

Aber: jedes Projekt des Mietshäuser Syndikats und viele andere selbstverwaltete politische und wohn-bezogene Projekte sind so aufgestellt, dass einzelne Bewohnende bzw. Aktive offiziell vertretungsberechtigte Positionen in der Verwaltungsstruktur inne haben – also Vorstände des Vereins oder Geschäftsführende der GmbH sind. Diese Positionen haben eigentlich nur repräsentative Funktion und sollten an die Bedürfnisse und Entschlüsse der Selbstverwaltungen gebunden sein.

Wenn nun aber Angehörige einer Partei eines projektinternen Konflikts eine Austragung bzw. Lösung des Konflikts erst nicht zulassen und dann ihre vertretungsberechtigten Positionen ausnutzen, um sich des Konflikt-Gegenübers per staatlicher Gewaltmittel zu entledigen versuchen, sollte uns das hellhörig machen.

 

Wenn ein selbstverwaltetes Projekt, das den herrschenden Zuständen der Gesellschaft bessere und menschlichere Alternativen entgegenstellen will, einen internen Konflikt durch Heranziehung der Staatsgewalt beenden will, geht das uns alle etwas an.

Konflikte gehören zum Zusammenleben und -arbeiten und die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen, definiert mit, wohin unsere Form des Zusammenlebens und -arbeitens führt.

Wollen wir gemeinsam mit unserem Konflikt-Gegenüber wachsen, indem wir den Konflikt auf eine respektvolle Art austragen? Wollen wir der Ellbogengesellschaft etwas entgegensetzen, indem wir versuchen, auf die Bedürfnisse unseres Gegenübers einzugehen? Oder wollen wir recht haben und unser Gegenüber verstoßen oder gleich ganz ‚zerstören?

 

Die derzeit Beklagte ist nur der von Partei B erkorene Sündenbock, von der Gewalt der derzeitigen Verhältnisse im Leibnizhaus 2 betroffen sind noch andere. Dass sie als junge Mutter eigentlich besonders von einer sich politisch links verortenden Gruppierung als schutzbedürftig erachtet werden sollte, sei hier nur erwähnt. („Wir glauben,nein wir wissen: dass ein anderes Leben möglich ist! […] Wir müssen vor allem auch gegenseitig unsere Grenzen und Bedürfnisse kennen und respektieren lernen.“ Aus der Selbstdarstellung des Leibnizhaus 2, www.leibnizhaus.de.)

 

Unsere Solidarität gilt den trotz allem im Haus verbleibenden Menschen, die nach wie vor eine bessere Welt wollen. Die nach wie vor einen gewaltfreien, respektvollen Umgang miteinander leben und sich dafür selbst in die Schusslinie der Übergriffe bringen. Die teils schon 30 Jahre dort leben und gestalten und ihr Zuhause nicht kampflos aufgeben wollen. Die sich nicht verdrängen lassen wollen.

 

Egal wie der Prozess entschieden werden wird, die Verhandlungseröffnung ist eine moralische und politische Bankrott-Erklärung der sogenannten Selbstverwaltung bzw. vielmehr der derzeitigen Mehrheitsgruppe des Leibnizhaus 2. Alles was folgt, kann nur noch Insolvenzverfahren und Abwicklung der gescheiterten Struktur sein.

Wenn der Prozess zugunsten der Kläger entschieden werden sollte, könnte dies einen Präzedenzfall schaffen: fortan könnten selbstorganisierte Projekte sich selbst durch Klagen zerfleischen, könnten die Vorstände von gemeinnützigen Vereinen die ihnen unliebsamen Mitglieder gerichtlich entfernen lassen, könnten Geschäftsführende von GmbHs die ihnen unliebsamen Mitbewohner_innen polizeilich räumen lassen….der Rechtsprechung ist eine vorherige Verwicklung der vertretungs- und zeichnungsberechtigten Menschen der klagenden Institution in einen Konflikt mit den Beklagten zunächst mal egal, da wird auf die vorgetragenen fallbezogenen Aussagen und Fakten geschaut.

 

Daher positionieren wir uns:

Für eine friedliche, gleichberechtigte Lösung von Konflikten.

Für eine offene Gesprächskultur und einen achtsamen Umgang miteinander.

Für eine bessere Welt.

Wir rufen zur kritischen Prozessbeobachtung und zur solidarischen Unterstützung der derzeitigen Minderheitsgruppe im Leibnizhaus 2 auf.

Die kommenden Prozesstermine werden auf unserer Website bekannt gegeben.

 

Mona und Manu